Anlässlich der Vorbereitung eines Vortrags mit schließendem Workshop in Bern zu
Grundfragen der Semiotik habe ich – wieder einmal – über The Matrix nachgedacht. Aus der Sicht der Semiotik könnte man mein
spezifisches Erkenntnisinteresse so formulieren: ist es besser (oder auch nur
gut bzw. akzeptabel) in einer Simulation, d.h. einer Welt, die aus Zeichen ohne
reale Objekte besteht, glücklich zu sein als in der Realität unglücklich zu
sein? Cypher, der Verräter aus The Matrix,
gibt offen zu, lieber ein virtuelles Steak zu verzehren als real zu Hungern:
CYPHER: (…) I know
that this steak doesn't exist. I know when I put it in my
mouth, the Matrix is telling my brain that it is juicy and delicious. After
nine years, do you know what I've realized? (...) Ignorance is bliss.
Ist Cyphers Verabsolutierung des virtuellen Lustprinzips
und seine Vergöttlichung der Ahnungslosigkeit nun moralisch-politisch „richtig“
oder „falsch“? Mehr noch: WER könnte aufgrund welcher WERTE für WEN entscheiden
und welche Folgen wären zu erwarten? Bekanntlich ist der Schritt von einer
radikalen Ablehnung des Lustprinzips“ zur fanatischen „Prohibition“ (nicht nur
alkoholhaltiger Getränke) nicht allzu weit. Lange vor dem Welterfolg der Matrix
hat der Philosoph Robert Nozick diese Fragen in seinem 1974 erschienenen Werk Anarchy, State, and Utopia diskutiert. Er
stellt sich (und uns) dazu eine Erfahrungsmaschine (Experience Machine) vor,
die uns alle von uns gewünschten Erfahrungen ermöglichen würde, aber eben nur
auf der Basis einer Illusion, d.h. in Peirce’scher Terminologie als „Pseudo-Index“,
dem die physikalische Verbindung zu einem realen Objekt fehlt. Nozick, dessen
Ansichten aus der libertären Massen-Medien-Skepsis der 60er-Jahre zu kommen
scheinen, meint, die Menschen würden diese Maschine ablehnen, weil wir, wie er
postuliert, bestimmte Dinge wirklich tun wollen und uns nicht mit der bloßen Erfahrung
zufriedengeben würden, sie getan zu haben, - während wir in Wirklichkeit die
Hände im Schoß gefaltet hatten.
Nozicks Argument scheint mir vor allem auf
eine moralisch-sozial-politischen Ebene abzuzielen. Der „gute Mensch“ will den
„hungernden Kindern“ wirklich helfen und nicht nur die für ihn (aber nicht für
die Kinder) befriedigende simulierte Erfahrung machen, dass er geholfen habe. Dagegen
könnte man – wenn auch zynisch – einwenden, dass es den „hungernden Kindern“
mit einer „Experience Machine“ ja freistünde, sich mit einem „Steak à la
Cypher“ den Magen vollzuschlagen. Wenn Nozik schreibt, „we want to do certain
things“ dann scheint das eher ein Kantianischer „moralischer Imperativ“ (Nozick
ist Philosoph) denn eine soziologisch-statistische Feststellung zu sein: nicht „wir
wollen etwas bewirken“, sondern, „wir sollen etwas (möglichst Gutes) bewirken
wollen“.
Ein weiterer Punkt, den Nozick gegen eine freiwillige
oder unfreiwillige Auslieferung des Menschen an eine Experience Machine
anführt, ist für semiotisches, dialektisches und materialistisches Denken
besonders interessant, da er dabei auf die jeweiligen Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft
(die immer nur zeichenhaft sein kann) im Augenblick des Eintauchens in die
Experience Machine hinweist. Er meint, wir müssten die Experience Machine
ablehnen, weil sie uns immer nur die Erfahrung vermitteln kann, die wir uns –
vor der Erfahrung – vorstellen können.
Abgesehen davon, dass Nozick hier die
bewusstseinserweiternde Kraft psychedelischer Drogen verneint, ist das ist ein
Argument, das eindeutig aus dem dialektischen Denken von Hegel und Marx
abgeleitet ist, und folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden kann: solange
ich mir selbst mein Paradies ausdenken muss, wird es immer von den Grenzen
meiner Phantasie eingeschlossen sein. Man kann sich eben nur vorstellen, was
man sich vorstellen kann. Oder, umgekehrt aufgezäumt: das Unvorstellbare ist
unvorstellbar. In den Worten Wittgensteins lautet dieses Argument bekanntlich, „Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Im Hinblick auf The Matrix ist
es natürlich notwendig, auf die mögliche technologische Dynamisierung eines
derartigen Denkens hinzuweisen: der Mensch könnte entsprechend intelligente
Maschinen entwickeln, die sich selbst weiterentwickeln und dem Menschen mit ihm
Unvorstellbaren konfrontieren.
Insgesamt scheint bei Nozicks
anti-hedonistischer Ablehnung einer „Experience Machine“ auf allen Ebenen ein pädagogisch-moralischer
Imperativ des „Wollen-Sollens“ durchzuschlagen: das Gedankenexperiment soll uns
auf die Idee bringen, dass wir unsere Ideen in der Realität umsetzen wollen,
anstatt uns in Virtuellen Realitäten und Simulation auszutoben und zu
verausgaben. Den aus der Tradition der klassischen Philosophie bekannten Imperativ
„Hic Rhodos, hic salta“ könnte man in diesem Kontext virtueller Realitäten und
Simulationen als Nozicks „Hier ist die Realität, hier sollst Du springen
wollen“ verstehen.
Angesichts der in der modernen Welt herrschenden
Zustände, ist es kein Wunder, dass die Realitätsflucht (in Drogen, Süchte,
Parallelwelten, virtual reality und
andere Ausflüchte) zu einer Simulations-Sucht geworden ist. Die Schuld dafür beim
blöden Volk zu suchen, greift zu kurz. Karl Marx schreibt in einer seiner
schönsten und hellsichtigsten Passagen, in der er auch zeigt, dass er ein
großes Herz hatte: „ Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das
Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“ Die Marx’sche
Religionskritik an die modernen Verhältnisse anpassend könnte man seinen anschließenden
Gedanken, Religion sei „das Opium des Volkes“ in die technologisch avancierte
Version „die Matrix ist das Opium des Volkes“ umformulieren.
Cypher zieht sein Cybersteak dem Hunger vor,
obwohl er weiß, dass er betrogen wird uns sich betrügt. Sein „ignorance is
bliss“ erinnert nicht um sonst an ein religiöses Mantra.
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