Bram Stokers Roman Dracula beginnt mit einer Notiz aus Jonathan Harkers Reisetagebuch: «3. May. Bistritz. - Left Munich at 8:35 P. M., on 1st May, arriving at Vienna early next morning; should have arrived at 6:46, but train was an hour late.»
Dracula ist wohl der einzige Text der
Weltliteratur, der mit einer Zugverspätung beginnt. Bis München ist dem blutjungen
Harker offenbar nichts widerfahren, das ihm merkwürdig genug gewesen wäre, um
im Tagebuch vermerkt zu werden. Kaum kommt er jedoch nach Österreich, schon ist
der Zug - typisch Österreich könnte man sagen – verspätet, was Harker, ein
pedantischer kleiner Rechtsanwalts-Gehilfe auf seiner ersten großen Reise,
penibel notiert.
Einem abgeklärten Reisenden wäre es im Gegenteil merkwürdig
erschienen, wenn alle Züge quer durch Europa pünktlich gewesen wären.
Mit dieser
Wiener Zugsverspätung wird schon im ersten Satz von Dracula ein bedrohlicher Grundton angeschlagen, der sich durch den
ganzen Roman zieht; sie ist die erste einer Serie von Verspätungen und
Verzögerungen.
Bekanntlich
ist der Junggeselle Harker nicht
zu seinem Vergnügen unterwegs, sondern auf Dienstreise. Sein Boss hat ihn nach
Transsylvanien geschickt, weil ein gewisser Graf Dracula Grundbesitz in England erwerben will. Wenn Harker nicht
rechtzeitig nach Transsylvanien kommt, dann platzt das Geschäft vielleicht und
Harker könnte seinen Job verlieren und damit auch die finanzielle Grundlage,
seine Geliebte Mina zu heiraten.
Harker will das Vertrauen, das sein Chef in
ihn gesetzt hat, nicht enttäuschen und daher möglichst schnell zu Dracula
kommen: should have arrived at 6:46.
Kaum ist er jedoch tatsächlich bei Dracula angekommen, findet er sich in einem
Alptraum wieder.
In Murnaus Nosferatu (1922) ist die Begegnung des
jungen Mannes mit dem uralten Vampir scherenschnitthaft eindrucksvoll
dargestellt. Auch wenn die Figuren in Nosferatu
aus rechtlichen Gründen anders benannt wurden, bleibe ich der Einfachheit
halber bei Harker und Dracula.
In der
Uhrenszene sitzt Harker wenige Minuten vor Mitternacht auf Schloss Dracula am
Esstisch. Er ist von der Reise erschöpft, sein Gastgeber hat ihm – wie es sich am
Hof eines Grafen (vgl. „höflich“) gehört – einen späten Imbiss angeboten.
Die Szene
ist dramaturgisch perfekt, extrem karg und symbolisch aufgeladen. Harker nimmt einen
Laib (man könnte mit Freud assoziieren: Laib=Leib) Brot vom Tisch und ein
Messer zur Hand, das mich immer an Psycho
erinnert. Es gibt in unserer Vorstellungswelt keine „einfachere“ Mahlzeit
als ein Stück Brot: „Gib uns unser tägliches Brot heute“ heißt es im Vater Unser. Essen ist Eros, Lebenstrieb,
leibliche Lust. Während Harker das Brot schneidet, schneidet Murnau um auf Draculas
Augen, die Harker fixieren.
Harker hält
inne, er ist verwirrt und beunruhigt, weil sein Gastgeber nicht mit ihm isst
(=unhöflich, unlebendig), sondern ihn nur anstarrt.
Genau in diesem Augenblick –
perfektes Timing - schlägt die Einhand-Uhr (vgl. dazu meinen Post über Zeiger/hands) hinter Harker Zwölf. Mitternacht.
Geiserstunde. Erschrocken blickt er sich zur Uhr um. Draculas Uhr hat ein ganz
besonderes Schlagwerk: Gevatter Tod, dargestellt durch ein Gerippe, thront über
der Uhr und schlägt die Stunde.
Nervös und
irritiert schneidet Harker sich in den Daumen - ins eigene Fleisch - Blut
fließt und der bisher seltsam leblose Vampir erwacht.
Werner Herzog hat diese
Uhren-Szene in seiner Nosferatu-Version fast schon parodistisch nachgestellt, mit einem Totenschädel, der aufklappt.
Während mich die semiotische Klarheit von Murnaus Uhr fasziniert,
denke ich bei Herzog/Kinski/Ganz – immer: wenn Herzog in der Uhrenszene so
übertreibt, hätte er - zum Kuckuck! - gleich eine Kuckucksuhr für diese Einstellungen nehmen können.
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