Thursday, October 18, 2012

Die Göttin der Morgenröte


Meinen nächsten Posts widmen sich semiotischen Analysen im Zusammenhang mit der Zeit und Zeitmessung; es wird um Uhren und Kalender gehen. Auch in diesem Kontext bleibt  mein Blog noch rot. Der Übertitel für die nächsten Tage lauten: „Zum Kuckuck: Flashmob, Firmung, Morgenröte“. Heute schreibe ich in der Morgenröte über die Morgenröte; die Sonne geht soeben auf. 
Wir sagen „die Sonne geht auf“ obwohl wir wissen, dass die Erde um die Sonne kreist: in Wirklichkeit „geht die Erde unter“ die Sonne, wenn wir sagen, die Sonne „geht auf“ - und zu – wie Ernst Jandl sprachspielerisch ergänzt hat.
So geben wir im alltäglichen Sprachgebrauch dem Schein (= Sonnenaufgang) den Vorzug vor der Wahrheit („Untergang“ der Erde).

Im Post über Benno Ohnesorgs Ermordung habe ich erwähnt, dass sich das „krumme Ding“ in der Krummen Gasse Nr. 66 (über 666 werden wir auch noch semiotisch reden müssen, auch: and get your kicks on route 66) zugetragen hat. Auch heute geht es um Namen.
Von den vermutlich Tausenden Panzerkreuzern der sieben Weltmeere sind nur zwei global berühmt/berüchtigt geworden und geblieben: die Potjemkin (Schiffe sind weiblich) und die Aurora
Aurora ist – es könnte nicht schöner sein - die Göttin der Morgenröte, Aurora ist auch der Name des Kreuzers, der in der Nacht zum 7. November 1917 mit einem Schuss das Zeichen für den Sturm auf das Winterpalais in Sankt Petersburg gegeben hat. Mit diesem Signal (Mander, ‚s isch Zeit! – darf man Andreas Hofer und Trotzki in einem Atemzug erwähnen?) begann der Legende nach die russische Oktoberrevolution.

Welcher Name als Aurora (Morgenröte) könnte besser zu diesem Ereignis passen? Tatsächlich wurde der „zeichengebende“ Panzerkreuzer jedoch – wenn man wikipedia trauen darf – schon beim Stapellauf im Mai 1900 auf den symbolisch aufgeladenen Namen Aurora getauft, lange bevor die Morgenröte den Startschuss für die rote Revolution geben sollte.

Dass die 1917er-Revolution Oktoberrevolution genannt wird, obwohl das Winterpalais nach unserem Kalender erst im November erstürmt wurde, hängt mit dem Unterschied zwischen dem Julianischen (von Julius Caesar) und dem Gregorianischen (nach Papst Gregor XIII) Kalendersystem zusammen: „Bei uns“(Ich assoziiere "Gott-sei-bei-uns" - wieder ein Thema für einen Post) ist schon November, wenn „bei den Russen“ noch Oktober ist. Wir werden alljährlich an diese Differenz erinnert, wenn uns die Medien am 7. Jänner darauf hinweisen, dass nun auch „die Russen“ Weihnachten feiern, weil bei ihnen erst der 25. Dezember ist. So wird Weihachten zur Eselsbrücke für den Termin der Oktober/Novemberrevolution.

Singing Songs and Carrying Signs



Singing Songs and Carrying Signs: weiter im semiotischen Kontext von Verkehr =Politik und zurück zur Frage Why don’t we do it in the road?
Haben Sie schon einmal über die Herkunft des Wortes Demonstration nachgedacht? Über den Zusammengang zwischen der Demonstration und der Monstranz? Dem Monströsen? Immer geht es ums Zeigen und Zeichen setzen: wer die Macht hat, setzt die Zeichen. Wer die Zeige/Zeichen-Macht hat, will verhindern, dass Zeichen gesetzt werden, die diese Macht untergraben: Singing Songs and Carrying Signs, Stephen Stills hat die Stimmung einer (noch friedlichen) Demonstration perfekt eingefangen.

Geht die Zeige/Zeichen-Macht vom Volk (Grundgesetz: Volkssouveränität) oder von den Gewehrläufen aus, wie Mao sagte? (Dazu auch mein früherer Post über Mao und die rote Ampel sowie der Post über die Baader-Meinhof-Bande/Rote Armee Fraktion.)

Horst Mahler, in den 60er-Jahren eine zentrale Figur der radikalen Linken, heute ein Rechtsradikaler (auch dazu Baader-Meinhof-Bande/Braune Mörder Bande in meinem letzen Post) hatte für die politischen Pamphlete über den bewaffneten Kampf den Titel Die neue Straßenverkehrsordnung gewählt, weil die Westberliner Obrigkeit mit dem Hinweis auf die geltende Straßenverkehrsordnung Demonstrationsverbote ausgesprochen hatte. Ein Demonstrationsverbot verbietet es den Massen, sich und ihre Zeichen zu zeigen.
Was ist die kleinste Einheit einer Demonstration? Sind drei Leute, die auf dem Gehsteig zusammenstehen (statt, wie der Gehsteig es verlangt: gehen) schon eine Demonstration? Ein Auflauf? Eine Zusammenrottung? Die bundesdeutsche Polizeigewerkschaft, die in den 60er-Jahren Teil der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) war, hatte sich immer wieder in die verkehrs-politischen Diskussionen um Demonstrationsverbote eingeschaltet.

Der Polizist Karl-Heinz Kurras hat den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei der Demonstration gegen den Schah erschossen. Angeblich aus Notwehr, wie ich in meinem letzten Post geschrieben habe, - in den Hinterkopf, wie wir heute wissen. Am 3. Juni 1967 wurde in Berlin darauf hin ein generelles Demonstrationsverbot erlassen: Why don’t we do it in the road? – weil es verboten ist. Aber wenn doch die Macht vom Volk ausgeht und nicht von den Gewehrläufen?
Singing Songs and Carrying Signs? - wer kann (uns) das verbieten? 
Die Frage nach der Versammlungs - und Demonstrationsfreiheit beschäftigte bundesdeutsche Verwaltungsgerichte, Politik und Medien über Monate. In den konservativen Medien wurde das Verbot oft mit dem Hinweis darauf entideologisiert, dass Demonstrationen eine „Verkehrsbehinderung“ seien. So schrieb z.B. die Berliner Morgenpost am 24. Oktober 1967 unter der Schlagzeile „Sperrbezirk für Demonstrationen.“
„In den zuständigen Senatsbehörden wird jetzt vor allem darüber beraten, wie die Behinderung des Fahrzeugverkehrs in der City durch jugendliche Randalier vermieden werden kann.“ – so als wäre die Verkehrsbehinderung das Hauptproblem gewesen.
Demonstranten, jugendliche Randalierer, Verkehrbehinderung. In diesem Kontext wird klar, wieso Horst Mahler eine neue Straßenverkehrsordnung fordert. Zum Abschluss dieses Themenkreises noch einmal Buffalo Springfield:
What a field-day for the heat /A thousand people in the street
Singing songs and carrying SIGNS /Mostly say, "hooray for our side!"
It’s time we STOP....(Fortsetzung folgt).

Wednesday, October 17, 2012

nomen est omen


Im Jänner 1967 veröffentlichte die amerikanische Folk-Rock Band Buffalo Springfield, zu der die späteren Superstars Neil Young und Stephen Stills gehörten, ein Lied, das Stephen Stills geschrieben hatte. Musikalisch ist der Song ein Ohrwurm, der Text beschreibt eine Straßenszene, die ein halbes Jahr später in Berlin Wirklichkeit werden sollte:

There's something happening here
What it is ain't exactly clear
There's a man with a gun over there
Telling me I got to beware.

Dann setzt der Refrain ein: It’s time we stop, children...
So kommen wir nochmals zur Ampel, zu ROT, zum STOP und zur Straße. Schon sind wir mitten im Straßenkampf, der mit der alten Straßenverkehrsordnung verhindert und Horst Mahles neuer Straßenverkehrsordnung (dazu der nächste Post) herbeigeführt werden sollte. Gehen wir zuerst Stephen Stills Lyrics der Reihe nach durch.

There's something happening here: gegen den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlewi in der BRD findet in Berlin im Jahre 1967 eine Demonstration statt. Der Schah will sich – ausgerechnet – die Zauberflöte ansehen. Das klingt nach ganz billiger Politkrimi pulp fiction, ist aber die Wahrheit: der Tyrann will sich im Theater mit Mozarts märchenhafter Freiheitsoper amüsieren, geschützt von der Polizei eines demokratischen Landes, während draußen vor der Tür (Vgl. Borchert 1947) die Opposition und die geflüchteten/vertriebenen Perser demonstrieren.

What it is ain't exactly clear: bis heute ist nicht ganz geklärt, wie die Sache außer Kontrolle geriet. Prügeln die Agenten des Schahs zuerst auf die Demonstranten ein, wenden die Exilperser zuerst Gewalt an? Wer hat den ersten Stein geworfen?

There’s a man with a gun over there: die Polizei zerstreut die Demonstration, wie es euphemistisch heißt. Die DemonstrantInnen werden in enge Gassen gedrängt und bis in Hinterhöfe verfolgt. Benno Ohnesorg (was für ein schöner sprechender Name Ohne-Sorgen) ist einer der Demonstranten; es heißt, es war seine allererste politische Demonstration; es sollte auch seine letzte sein. Mehr zur Etymologie von polis und demonstrare auch in einem der folgenden Posts.

Telling me I got to beware: Angeblich hat die Polizei Benno Ohnesorg gewarnt. Angeblich hat Ohnesorg nicht auf die Warnungen der Polizei gehört. Angeblich ist das der Grund, warum der Polizist Karl-Heinz Kurras ( man with a gun over there) den Benno Ohnesorg in Notwehr erschießen musste. All diese Angaben sind umstritten. Was ursprünglich als Unfall und Notwehr ausgegeben wurde, gilt heute als geplanter Mordanschlag. Ein krummes Ding, das am passenden Ort passierte: Krumme Straße 66, die Adresse passt so genau, dass man auch sie für eine falsche Angabe oder eine pulp fiction Erfindung halten könnte. 

Der Schütze Kurras ist selbst eine äußerst zwielichtige Figur; in zwei Prozessen wurde er freigesprochen, immer wieder tauchen neue Fakten/Lügen auf. Die genauen Umstände der Tat sind noch immer unklar, das genaue Datum ist jedoch berühmt/berüchtigt geworden: 2. Juni 1967.  
So kommen wir von Benno Ohnesorg zur grundlegenden Definition eines Zeichens, die direkt vom Meister C.S.Peirce selbst stammt: Ein Zeichen ist etwas, das, in irgendeiner Hinsicht, für jemanden für etwas anderes steht. Eine militante Stadtguerilla-Gruppe setzt Ohnesorg ein Denkmal und ein Zeichen, indem sie seinen Todestag als Kampfnamen annimmt: Bewegung 2. Juni.
„Dieses Datum wird immer darauf hinweisen, daß sie(die Polizei) zuerst geschossen haben! Das ist bis zum heutigen Tag so“, sagen Ralf Reinders und Ronald Fritzsch in ihrem Buch Die Bewegung 2.Juni (ID-Archiv, 1995, S. 7.). 
Wie gesagt, die Fakten sind umstritten. Hinter der Frage „Wer hat den ersten Stein geworfen?“ blitzt jedoch zweifellos das (nicht nur re-bellische) Rachedenken auf: Zurückschlagen, Gleiches mit Gleichem vergelten, Auge umd Auge, Zahn um Zahn. Davon ausgehend führt ein direkter Weg zum alten System der Spiegelsstrafen: dem Dieb wird die Hand abgehackt, dem Lästerer die Zunge herausgerissen, der Körper wird so zum Zeichenträger, die Strafe semiotisch lesbar. Auch dazu in einem späteren Post mehr.

Tuesday, October 16, 2012

Politische Semiotik: Rote Armee Fraktion vs. Braune Mörder Bande


Heute führt uns der semiotische Spaziergang von Maos Roter Ampel zu Horst Mahlers Versuch einer neuen Straßenverkehrsordnung. Dabei machen wir allerdings einen Umweg, bei dem wir einen semantischen Blick auf die Rote Armee Fraktion werfen. Die folgende Geschichte, der ich nicht ganz traue, habe ich im Sammelband Die ALTE Straßenverkehrsordnung (Hervorh. von mir) gelesen. Sie wäre ein wunderbares Beispiel für eine geglückte Täuschung (ein semiotisches Manöver, wie wir sehen werden), wenn sie wahr wäre. Ich kann mir aus heutiger Sicht jedoch kaum vorstellen, dass in den 60er-Jahren die Journalisten und Justizkreise tatsächlich so naiv waren, wie sie im folgenden Text erscheinen. Andererseits hatten sie damals noch wenig Erfahrung mit der subversiven Phantasie der Stadtguerilla:

„Am 24.7.1971 meldete die Frankfurter Rundschau unter Berufung auf Justizkreise einen spektakulären Fall gelungener Resozialisierung. Der Untersuchungsgefangene Horst Mahler, ließen die Ermittlungsbehörden verlauten, habe in der Haft ein 70-seitiges „Verkehrsrecht- und Verkehrsaufklärungsheft“ geschrieben, welches nun unter dem Titel Die neue Straßenverkehrsordnung in linken Buchhandlungen verkauft werde.“ 
( Zit. nach: W. Pohrt, K. Hartung, G. Goettle, Kollektiv RAF, Die alte Straßenverkehrsordnung, 1987, S.5).
Wenig später wurde dieses Buch beschlagnahmt, weil man erkannt hatte, dass unter dem Titel Die NEUE Straßenverkehrsordnung (Hervorh. von mir) eine neue revolutionäre Weltordnung propagiert wurde. Interessant, wie sehr der an sich neutrale Begriff NWO fast ausschließlich mit George Bush und den Rechten assoziiert wird. Die NEUE Straßenverkehrsordnung, von der hier die Rede ist, enthielt Texte der Roten Armee Fraktion, in denen sie zum bewaffneten Kampf in Westeuropa aufrief.

Der Diskurs der und über die RAF ist ein vielschichtiges Beispiel für die Feinheiten politischer Semiotik. In der bürgerlichen Presse ist diese Gruppe, um einen möglichst neutralen Ausdruck zu verwenden, generell als „Baader-Meinhof-Bande“ bezeichnet worden, um damit ihren illegalen und kriminellen Charakter als Räuber- und Mörderbande zu betonen. Zugleich waren die Eigennamen ein Zeichen dafür, dass es sich dabei um individuelle Kriminelle handle und nicht um eine breite Bewegung.
Sich selbst sah die Gruppe hingegen als Rote Armee Fraktion, um ihre Gewalt historisch zu legitimieren und die ideologischen Blutsbande zur revolutionären Roten Armee Russlands im Namen herauszustellen. Wie stark dieser Name und die damit verbundenen politischen Farbcodes sind, merkt man, wenn man die RAF (und ich spreche hier nicht von der Royal Air Force) umfärbt: Himmelblaue, Lindgrüne, Braune oder Weiße Armee Fraktion generieren jeweils unterschiedliche Assoziationen; BAF – Braune Armee Fraktion lässt an den in den 60er-Jahren von Jürgen Habermas wiederbelebten Begriff des „linken Faschismus“ denken,
WAF – Weiße Armee Fraktion hätte sofort auf einen arisch-rassistischen oder zumindest konservativen Charakter schließen lassen, die „Weißen“ in Russland waren für den reaktionären Terror verantwortlich, die Weißen Suprematisten sind davon überzeugt, die bleiche Rasse wäre allen anderen überlegen. So viel zu weiß als Farbe der Unschuld.

Der Begriff Armee im Namen der Gruppe/Bande ist zugleich Drohgebärde und Versuch, die eigenen Aktionen zu legitimieren: Nur Armeen und Scharfrichter dürfen per definitionem töten. Das ist so „normal“, dass der Widerspruch „Soldaten sind Mörder“ (Tucholsky 1931) sofort die Gerichte auf den Plan ruft. 
Andererseits bedeutet „Armee“ – von lat. arma im Wortsinn zuerst nichts anderes als „bewaffnet“, „bewehrt“, „gerüstet“, womit die RAF auf das Recht/die Pflicht zum bewaffneten Kampf hinweist. Wenn man semantisch hellhörig ist, dann bemerkt man den feinen Unterschied zwischen bewaffnet und bewehrt: Staaten sprechen von Wehrpflicht, Armeen werden Wehrmacht oder Bundeswehr genannt, so als wären sie nur für Verteidigungskriege (= sich wehren) gedacht. Auf das dazu assoziativ sich mir aufdrängende gepanzerte Gürteltier = Armadillo komme ich im Zusammenhang mit der Vampirsemiotik noch zu sprechen: in einem Post, in dem Armadillos und die RAF gemeinsam eine Rolle spielen werden.
Gleichzeitig ist der Name Rote ARMEE Fraktion eine bewusste Provokation, weil zumindest im damaligen Westeuropa nur Staaten Armeen haben durften; a language is a dialect with an army and a navy.

Das Fraktion in der Roten Armee Fraktion spiegelt den Versuch, sich selbst als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen bzw. als Teil eines Ganzen (der revolutionären Massen) zu erscheinen. Lateinisch frangere bedeutet zerbrechen, die Fraktion ist daher ein Bruchteil, eine kleinere Gruppe, etwas Zusammengehöriges, die Avantgarde.
Fünfunddreißig Jahre nach der sogenannten Todesnacht von Stammheim spüre ich als Zeitzeuge beim Schreiben dieses semiotischen Tagebucheintrags noch immer, welche Sprengkraft diese Gegenüberstellungen auch heute noch haben: Rote Armee Faktion statt Baader-Meinhof oder Braune Mörder Bande. Daran sollten wir immer denken, wenn wir zwischen Regierung oder Regime (sprachlich=semantisch) wählen, zwischen Freedom Fightern oder Terroristen, zwischen Aggression und Rebellion (Re-Bell- ion / Bella gerant alii) - um es am Ende noch komplizierter zu machen.

Monday, October 15, 2012

Red Revolutions per Minute


Ich glaube, mich an eine symbolisch höchst aufgeladene Verkehrsampel-Szene aus Bernardo Bertoluccis Film Der letzte Kaiser (1987) zu erinnern, in dem er den Lebensweg von Puyi nachzeichnet, dem letzten Kaiser von China, der 1908 an die Macht kam. 
In dieser Szene warten Arbeiter(=die revolutionären Massen)  mit Fahrrädern vor einer Verkehrsampel. Die Ampel zeigt grün, die Arbeiter rühren sich nicht von der Stelle. Erst als die Ampel auf rot springt, schwingen sie sich auf ihre Räder und fahren los: das ist Revolution! 
Das Internet ist voll mit Gerüchten und Geschichten zu dieser Szene, ich wollte jedoch sicher wissen, ob dieser Filmausschnitt nur ein cineastisch-semiotisches Spiel ist oder ob er auf einer wahren Begebenheit beruht. Es wäre naheliegend, dass das kommunistische China nach der roten Revolution versucht hätte, das westliche Verkehrsampelsystem auf den Kopf zu stellen (oder auf die Füße, wie Marx gesagt hätte). Die Farbe Rot ist die Farbe des Kommunismus, der aufgehenden Sonne, des gesellschaftlichen Fortschritts, aber auch das traditionelle Glückssymbol Chinas. Daher wäre es aus der Sicht der Revolution (=Umdrehung, vgl. rpm = Revolutions per Minute) nur logisch, dass sich die Räder bei „rot“ drehen, anstatt stehen zu bleiben.

Dank Harvey Dzodin in Beijing bin ich auf die richtige Spur gekommen: tatsächlich hat es im revolutionären Eifer an der Spitze der Partei Diskussionen über die Verkehrsampeln gegeben; die Partei wollte den sogenannten „großen Sprung nach vorne“ und die „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche und Mao in einem Satz sind doppelt gefährlich), um die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum revolutionären Paradies radikal zu verkürzen. Angeblich hatte man sich schon für die revolutionäre Regel Rot = Fortschritt = Fahren entschieden, als der Premierminister Tschou en Lai (Zhou Enlai) sich doch noch mit dem entscheidenden Argument durchsetzt, dass es viel besser wäre, weiterhin bei rot anzuhalten, weil man damit den Respekt vor der kommunistischen Partei zum Ausdruck bringt. Strammstehen statt Umdrehungen. 
Seither denke ich immer an die Kommunistische Partei, wenn ich vor einer roten Ampel stehe. Und an die Grünen, wenn ich im im Stau stecke - obwohl die Ampel grün zeigt.



Sunday, October 14, 2012

Kultur und Natur: Delirien und Physiologie


Ich lasse mich noch immer vom Verkehrsstrom treiben und nehme heute die Verkehrsampel beim Wort: die Griechen sagen Sematodhotes, weil diese Vorrichtung ein „semeion“ (= Zeichen, daher auch: Semiotik) gibt, auf Italienisch heißt die rote Ampel semaforo rosso, der rote Zeichenträger, was sich auch auf „semeion“ sowie auf das ebenfalls griechische „pherein“ (= tragen vgl. Amphore = Gefäß) zurückführen lässt. 
Spätestens jetzt sollte jedem Christopher und Christof bewusst geworden sein, wen er im Namen und symbolisch auf der Schulter trägt.
Dass die Engländer cool traffic light sagen und die Franzosen feurig feu, habe ich schon erwähnt. Ich vermute, dass man das Französische feu bis zu einer griechischen Amphore zurückverfolgen kann, die mit Öl gefüllt war: eine Amphore ist als Gefäß ein „Inhaltsträger“ (pherein). Wenn man sie mit Öl füllt, das man entzündet, wird sie zur Öllampe oder eben zum Signalfeuer. Feuer und Rot, feuerrot assoziieren wir intuitiv mit Blut und Gefahr, wenn wir rot sehen, sehen wir rot!

Man darf trotz aller assoziativen Codes und etymologischen Delirien nicht vergessen, dass auch wahrnehmungs-physiologische Gründe dafür sprechen, Rot und Grün als Signalfarbe zu verwenden. Sehen ist ein äußerst komplexes Phänomen, daher kann ich hier kaum mehr als Andeutungen geben:
a) Unser Rot/Grünsystem arbeitet offenbar besonders schnell, schneller als z.B. das Blau/Gelb-System.
b) Rot sticht aus der natürlichen Umgebung besonders hervor, so als wäre das menschliche Auge darauf programmiert, Rot besonders gut zu erkennen.
c) Obwohl wir rasch und empfindlich auf Rot reagieren, werden wir davon nicht geblendet. Deswegen ist z.B. die Kabinenbeleuchtung für die Navigation auf Schiffen rot. So kann man die Instrumente und Karten lesen und ist nicht völlig nachblind, wenn man dann aufs dunkle Meer hinausschaut.

Man hätte theoretisch auch Himmelblau oder Hellrosa oder Pink/Gelb -gestreift für die Bedeutung „STOP“ in Verkehrsampeln verwenden können, aber man müsste dafür einige Wahrnehmungs- und Assoziations-Nachteile in Kauf nehmen oder sich wie Rot-Grün-Sehschwache an anderen Kriterien (Position des Signals) orientieren. 
Die Verkehrsampel, wie wir sie kennen, erscheint nach diesen Überlegungen als gelungene Verbindung von Kultur und Natur. Das macht die Versuche, dieses Signal-System auf dem Kopf zu stellen (hellörige assoziieren hier schon Karl Marxens Programm, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen) besonders faszinierend. Dazu mehr im Montag-Mao-Post.

Saturday, October 13, 2012

Schön Rot und ganz schön Blau


Mein letzter Post hat mit den Beatles geendet: Why don’t we do it in the road? Bleiben wir im semiotischen Tagebuch bei Straßen und Plätzen. Die rote Laterne baumelt vor Bordellen im Rotlichtviertel, das ist ein kultureller und physiologischer Code.  Der Letzte des härtesten Straßenrennens der Welt, der Tour de France, trägt eine rote Laterne mit Stolz; die Tour/Tortour ist eine der wenigen Sportveranstaltungen, bei der man den Schwächsten als den gerade noch Stärksten der allzu Schwachen feiert. All diese Rot-Codes kennen wir auswendig by heart (einem roten Organ), wie die Engländer viel schöner sagen. 

Offensichtlich ist rot/STOP emotional stärker aufgeladen als grün/GO: Blutrot, Feuerrot, Scharlachrot, Rot vor Wut.
Grün ist vergleichsweise harmlos: Lindgrün, Suppengrün, die kleinen grünen Männchen. 

Bei Stephen Pinker liest man, dass in archaischen Gesellschaften, in denen das Farbspektrum sprachlich nur sehr grob abgebildet wird, Rot die dominierende Rolle spielt. Wenn archaische Sprachen zusätzlich zu HELL und DUNKEL überhaupt ein Farbwort haben, dann ist es ROT! Im Russischen krasnyj klingt die Faszination, die das schöne Rot als Farbe aller Farben ausstrahlt, etymologisch noch nach: krasnyj  hieß schön und rot. Krasnaja Ploschtschad, der Rote Platz in Moskau, war schon im 17. Jahrhundert ein schöner Platz, bevor er mit dem Roten Oktober ein Roter Platz wurde.

P.S.: Zur roten Tuch: Stiere sind farbenblind. 
P.P.S: Ich spreche nicht vom Sternzeichen.
Im nächsten Post (dem Wort zum Sonntag) werde ich die Ampel beim Wort nehmen.