Der Herrgott stellt Kain expressis verbis zur Rede: „Warum bist du so wütend, und warum
senkt sich dein Angesicht?“ (1 Mose 4, Schlachter
2000). Was im biblischen Kontext normal ist, klingt außerhalb dessen verrückt:
wer Stimmen hört, ist ein Fall für die Psychiatrie. Wenn man sich jedoch auf die
Regeln der biblischen Welt einlässt, wird daraus ein Fall für die Semiotik. Die
Frage, in welcher Sprache der Herr „Es werde Licht!“ zum finsteren Chaos sagte,
in welcher Terminologie er Adam und Eva verbot, vom Baum der Erkenntnis zu
essen, mit welchen Worten er zu Kain zur Rede stellte, und wie wir alle vor
Babylon miteinander sprachen, ist in früheren Jahrhunderten Gegenstand
zahlreicher Spekulationen gewesen. Man stellte „wissenschaftliche“ Versuche mit
Neugeborenen an, die ihren Müttern entrissen und eingesperrt wurden und mit
denen niemand sprechen durfte, damit sie anstatt der biologischen Muttersprache
„von selbst“ die Sprache Gottes bzw. die Ursprache Adam und Evas zu sprechen
beginnen sollten.
All diese Menschenversuche, die die Semiotik Gottes ergründen
wollten, sind gescheitert. (Vgl. U. Eco, Auf der Suche nach der vollkommenen
Sprache).
Wie bereits in einem früheren Post erwähnt,
ist die Kain-und-Abel-Story keine Detektiv- sondern eine Kriminalgeschichte.
Gott ist nicht Sherlock Holmes, der recherchiert und deduziert, sondern als
Schöpfer der Welt der Autor des Krimis, der den Täter schon vor der Tat kennt. Obwohl es unter diesen Voraussetzungen
nicht nötig wäre, dass die Tat Spuren hinterlässt, wird die „Entdeckung“ der Tat
in der Bibel mit einer wunderbaren Metapher verbunden: das Blut Abels „schreit“
Himmel. Zur Strafe belegt der Herrgott Kain mit einem Fluch.
Auf diese magische Kraft der Sprache (Verfluchung,
Verzauberung) werden wir noch genauer eingehen. Am Ende der ersten biblischen
Mordgeschiche setzt der Herrgott nochmals ein starkes Zeichen: „Vnd der HERR
macht ein Zeichen an Kain / das jn niemand ershlüge / wer jn fünde“ heißt es
bei Luther; die Vulgata spricht von
„Signum“, die griechische Septuaginta
von „sēmeion“, womit wir – auch sprachlich – bei der Semiotik wären.
Dieses Kainszeichen oder Kainsmal (vgl.
Muttermal, in engl. Bibelübersetzungen ist von „mark“ die Rede, engl. Muttermal = birthmark) ist vor Jahrtausenden in
die Sprache eingegangen, obwohl
a) kaum jemand weiß, wie es aussieht,
und
b) nur die Schriftgelehrten noch
daran denken, dass das Kainsmal eigentlich als Schutzzeichen gedacht war.
Es ist aus psychologischer Sicht interessant,
dass die ursprüngliche Bedeutung „Schutzzeichen“ im Laufe der Geschichte durch
das semantische Gegenteil ersetzt worden ist. Wer ein Kainsmal trägt, ist ein
Stigmatisierter, der erst Recht Gefahr läuft, ausgegrenzt, vertrieben,
erniedrigt, eingesperrt und erschlagen zu werden: homo homini lupus, wie wir im Anthropologie-Post gesehen haben.
In welcher „Sprache“ hat der Herrgott das Kainszeichen
ausgedrückt? Wer kennt den Code? Ist dieses semiotische Wissen konventionell
oder intuitiv verankert?
Wenn man die alten Texte wörtlich nimmt, dann
hat der Herrgott dieses Zeichen „an Kain“ selbst, d.h. am Körper Kains sichtbar
gemacht. Wir können uns das Kainsmal als Muttermal, körperliche Besonderheit
oder z.B. Hautfarbe vorstellen. Ist Kain rothaarig, Linkshänder, dunkelhäutig,
Albino?
Auf dieses Thema werden wir im Zusammenhang
mit Zeichen, Politik, Psychiatrie und Strafvollzug genauer eingehen, wobei es
sowohl um die Frage nach dem Analogieverhältnis von „innen“ und „außen“, von
Geist und Körper, gehen wird als auch um die Frage, ob die Mächtigen, „die
Vertreter Gottes auf Erden“, selbst Zeichen an den Nachfolgern Kains
hinterlassen dürfen. Letzteres führt z.B. zur Idee der “Spiegelstrafe“, die die
Tat abbildet: dem Dieb wird die Hand abgehackt, dem Verleumder die Zunge herausgerissen,
der lüsterne Voyeur wird geblendet. So wird die Körperstrafe lesbar und damit Zeichen
der Tat.
Das Kainsmal könnte auch eine Art Tätowierung
oder ein Talisman gewesen sein, wie etwa ein Schutzzeichen gegen den bösen
Blick; die Verbindungslinie Blick-Knoblauch-Hoden habe ich in einem früheren Blick mit Hilfe der Psychoanalyse gezogen.
Die Frage „Wer kennt den Code?“ hängt eng mit
der Frage zusammen, was denn das Kainsmal nun eigentlich sei. Ist es ein körperliches
Merkmal (Haltung, Gesichtszüge, Hautfarbe, Schädelform), das wir „intuitiv“
erkennen sollten, so wie es heißt, dass Säuglinge ein Lächeln erkennen, oder ist
dieses Zeichen durch einen Code verbunden, den wir erst lernen müssen.
Die alten Texte geben hier keine klare Auskunft. Wenn wir nicht sicher sagen können, ob das Kainsmal ein genetisch verankertes körperliches Zeichen ist, eine Tätowierung, ein Amulett oder nur eine Metapher, dann können wir nicht sinnvoll darüber urteilen, ob es vererbt wird oder nicht. Trotzdem müssen wir in diesem Zusammenhang die semiotischen Aspekte der Eugenik und Euthanasie, der Rassenlehre und der Ansicht, das Innenleben spiegle sich im Äußeren, behandeln. Mehr dazu im nächsten Post.
Die alten Texte geben hier keine klare Auskunft. Wenn wir nicht sicher sagen können, ob das Kainsmal ein genetisch verankertes körperliches Zeichen ist, eine Tätowierung, ein Amulett oder nur eine Metapher, dann können wir nicht sinnvoll darüber urteilen, ob es vererbt wird oder nicht. Trotzdem müssen wir in diesem Zusammenhang die semiotischen Aspekte der Eugenik und Euthanasie, der Rassenlehre und der Ansicht, das Innenleben spiegle sich im Äußeren, behandeln. Mehr dazu im nächsten Post.
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