Im letzten Post habe ich mir Gedanken über die
konkrete physische Beschaffenheit des Kainsmals gemacht. Heute will ich diesen
Gedanken erweitern auf: der semiotische Blick wird sich nie auf das Dargestellte
beschränken, sondern immer auch die Darstellung einbeziehen.
Im letzten Post habe ich auch geschrieben, jeder
sei für sein Gesicht ab einem gewissen Alter selbst verantwortlich. Heute frage
ich: Wer ist für Kains Gesicht (Haar, Haufarbe, Nase, Mal) verantwortlich?
Der Semiotiker Roman Jakobson zitiert in
seinem Text On Linguistic Aspects of Translation den Anthropologen Franz Boas,
der darauf hinweist, dass uns die Grammatik der Zielsprache bei einer
Übersetzung von einer Sprache in eine andere oft zwingt, Entscheidungen zu
treffen, die in der Ausgangssprache nicht getroffen worden sind.
Jakobson
illustriert diesen Gedanken mit einem einfachen Beispiel: Wenn man den
englischen Satz „I hired a worker“ ins Russische (oder: gendergerecht auch ins
Deutsche) übersetzen will, dann muss man vor der Übersetzung wissen, ob es sich
um eine Frau oder einen Mann handelt, weil man in der Zielsprache eine Wahl
zwischen rabotnica und rabotnicu (Arbeiterin und Arbeiter) treffen
muss. Wenn man es nicht weiß, muss man – wenn möglich – nachfragen; eine Frage
die als neugierig oder sogar ungehörig empfunden werden kann. (Jakobson)
Ich dehne den Begriff intersemiotisch gerne auf alle
Übersetzungsformen aus, die zwischen zwei Zeichensystemen wechseln, auch wenn
die Ausgangssprache keine Sprache im engeren Sinn ist, aber im vorliegenden
Kriminalfall können wir bei der klassischen Definition von Jakobson bleiben.
Mit Jakobson kann sagen, dass visuelle
Darstellungen des biblischen Brudermordes intersemiotische Übersetzungen sind;
Maler haben die Beschreibungen aus dem 1. Buch Mose in Bilder übersetzt. Wenn
wir nun Jakobson Gedanken zur Übersetzung und Boas Hinweis auf den Zwang zur Auswahl verbinden, dann
sehen wir, dass die Maler als intersemiotische Übersetzer Entscheidungen treffen müssen, die im Ausgangstext
nicht getroffen worden sind.
Wie bereits erwähnt, war die Kirche in
früheren Zeiten, als die Massen nicht lesen konnten, schon gar kein Latein oder Griechisch beherrschten und sich
erst recht keine Bücher/Handschriften leisten konnten -, darauf angewiesen,
ihre Geschichten nonverbal an den Kirchenwänden und auf repräsentativen Bildern
zu propagieren. So wie ein interlingualer Übersetzer sich zwischen rabotnica und rabotnicu entscheiden muss, muss der Maler sich „angesichts“ (!) der Kain- und-Abel-Story entscheiden, welches
Gesicht, welche Haut- und Haarfarbe, welchen Körperbau, welche Nase er dem Kain
und dem Abel gibt. Dazu kommt, dass das Kainsmal zum Makel verkommen ist. Der
Maler muss mit dem Pinsel urteilen, wie er Kain und sein Kainsmal darstellt. Wenn
er Kain schwarz oder mit einer Judennase zeigt, dann ist „das Böse“ schwarz
oder eben jüdisch, dann werden Rasse und Hautfarbe zum Makel. Jedes visuelle Urteil wird zum Vorurteil, jedes Bild
zum Vorbild, das eine Flut von Vorteilen/Vorbildern und Urteilen/Nachbildern in
Gang setzt, die sich zum Klischee verfestigt: Schauen Sie sich bildliche
Darstellungen vom Brudermord an und Sie werden sehen, wovon ich spreche.
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